Damit das Leben mit 14 nicht vorbei ist

Junge Menschen, an deren Erziehung bisher jeder gescheitert ist, bekommen in Büchlberg (Lkr. Passau) eine letzte Chance. Im Haus St. Josef gibt es für sie keine Freiheit, aber intensive Betreuung. Von Tina Finnemann
Manuel* (14) aus Oberbayern sitzt unverkrampft da und lächelt sympathisch. Von Schüchternheit keine Spur. Ganz freimütig erzählt der Blondschopf, wie er nach Büchlberg gekommen ist, in die seit einem Monat bestehende geschlossene Wohngruppe Don Bosco im Haus St. Josef. Die Gruppe von acht Buben im Alter zwischen 11 und 16 Jahren bewohnt ein ganzes Stockwerk, das hermetisch von den übrigen Bereichen der Einrichtung abgeschlossen ist. Eine ausgeklügelte Schließtechnik, hohe Sicherheitsstandards und eine aufwendige und kostenintensive personelle Ausstattung gewährleisten ihre sichere Unterbringung. Wer hier wohnt, lebt unter Freiheitsentzug, der nur mit Genehmigung eines Familiengerichts (§ 1631 b BGB) zulässig ist. In diese Wohngruppe kommt nur, wer durch jedes Betreuungs- und Erziehungsraster unserer Gesellschaft gefallen sind.
Im Haus St. Josef versucht man, solche Jugendlichen aufzufangen. „Was müssen diese Kinder alles erlebt haben, dass sie lieber auf der Straße leben wollen als in der Familie oder bei Verwandten?“, fragt sich Bernhard Haimböck. Er ist der Geschäftsführer der Sozialwerk Heilig Kreuz gGmbH, dem Träger der Einrichtung. Rund 1,6 Millionen Euro hat das Sozialwerk investiert. Eine zweite, identische Wohngruppe ist ebenfalls fertig und wartet darauf, ab Sommer von acht Mädchen bezogen zu werden. „Wir haben leider keine Finanzmittel aus dem Konjunkturpaket erhalten, sondern uns für die nächsten 20 Jahre hoch verschuldet und werden wohl noch 70 Jahre arbeiten müssen, um das eingesetzte Kapital wieder zurück zu erhalten“, sagt Haimböck. „Aber wir denken, dass es die Kinder wert sind.“ Schon die Gründerinnen der Einrichtung in Büchlberg, die Schwestern vom Heilig Kreuz aus Altötting, nahmen nach dem Krieg Waisenkinder auf, deren Eltern auf der Flucht gestorben waren. „Die Schwestern gaben ihnen Heimat wie auch eine gute Erziehung.“
Die Wohngruppe Don Bosco ist die erste geschlossene Einrichtung ihrer Art in Niederbayern. Ähnliche Einrichtungen gibt es in Regensburg und Würzburg. Für Mädchen gibt es bayernweit nur eine vergleichbare Einrichtung in Gauting. „Viel zu wenig, sagen die Jugendämter“, erzählt Haimböck.
Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen die acht Buben in Büchlberg. Thomas Brecht, Heimleiter im Haus St. Josef, ist derzeit mit Wolfgang Gassler, dem Leiter der geschlossenen Wohngruppe, fast rund um die Uhr im Dienst. Als ehemaliger Justizvollzugsbeamter im Jugendstrafvollzug und Erzieher mit langjähriger Erfahrung als Anti-Aggressionstrainer weiß Brecht, auf was er sich eingelassen hat. „Wir wollen die jungen Menschen wertschätzen, ihnen aber klar machen, dass wir ihr bisheriges Verhalten absolut nicht tolerieren.“
Die vier Ein- und zwei Zweibettzimmer der Burschen sind spärlich und randalesicher möbliert, aber hell und freundlich gestaltet. Ein fest mit dem Boden verschraubtes Podest und eine schwer entflammbare Matratze gelten als vandalismussicheres Bett. Ein Schreibtisch, ein Hocker und ein offenes Regal als Schrank sind die einzigen Ausstattungsgegenstände. Jedes Möbelstück ist fest im Boden oder an der Wand verankert. Das gemeinsame Wohnzimmer ist entsprechend ausgestattet. Zu jedem Zimmer gehört eine Nasszelle. So können die Jugendlichen zwischen 20.30 Uhr am Abend und 6 Uhr Früh eingeschlossen werden.
Die Küche ist das heikelste Thema: Hier haben die Jugendlichen Zugriff auf Besteck, Gläser und Porzellan. Alle Schubladen und Schranktüren wie auch der Kühlschrank sind deshalb abschließbar, Messer, Gabel und Löffel werden vor und nach dem Essen abgezählt.
Für Kinder, die völlig ausrasten, gibt es einen „Time-Out-Raum“: ein weiß gefliestes Zimmer mit Panzerglasscheiben, in dem nur eine Toilettenöffnung in den Boden eingelassen ist. Thomas Brecht stellt klar: „Dieser Raum wird benötigt zur Krisenintervention bei akuter Selbstgefährdung oder Fremdgefährdung anderer Jugendlicher und Mitarbeiter.“ Der Raum wird mit Kameras überwacht.
Manuel erzählt ganz locker, was Außenstehenden Gänsehaut bereitet: „Ich war in vielen Heimen, aber ich hab’ es noch jedes Mal geschafft abzuhauen.“ Am Anfang seiner „Karriere“ standen kleinere Diebstähle, es folgten Einbrüche und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Nebenbei habe ich ein paar Körperverletzungen gemacht, richtig schwere.“ Drei Wochen war der 14-Jährige im Jugendarrest. „Im Vergleich dazu ist es hier cool.“
So offen sich Manuel gibt, so verschlossen gibt sich Kevin* (13) aus Bamberg. Auch sein junges Leben steckt bereits voller Brüche: Kevin wurde als viertes Kind einer Familie in München geboren. Die Eltern trennten sich, als er zwei Jahre alt war. Der Kontakt zum geliebten Vater riss bereits nach sechs Monaten ab, da der Mann mit seiner neuen Lebensgefährtin ein Kind erwartete und Kevin mit dieser Situation nicht zurecht kam. Kevins Mutter, selbst tief gekränkt, redete ihm ein, sein Vater liebe ihn nicht mehr und dies sei eigentlich auch der Grund für die Trennung der Eltern gewesen. Sie ihrerseits verwöhnte ihren Sohn; hatte Kevin keine Lust in die Schule zu gehen, entschuldigte sie sein Fehlen mit erfundenen Krankheiten. Im Laufe der Zeit suchte Kevin den notwendigen Halt im Freundeskreis. Dort gab es Alkohol und Drogen. Um sich das nötige Geld zu besorgen, begingen die Buben Straftaten jeglicher Art bis hin zum bewaffneten Raub. Jugendhilfe-Maßnahmen boykottierten Kevin und auch seine Mutter. Der Junge landete schließlich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach Fluchtversuchen und massiven Bedrohungen des medizinischen Personals wies das Amtsgericht ihn in die geschlossene Wohngruppe ein.
Hier können sich die Jungen durch Wohlverhalten Vergünstigungen „erarbeiten“ – ein Radio zum Beispiel oder ein Buch. Manuel weiß recht genau, was er gar nicht tun darf: „Ich darf nicht abhauen, darf keinen verprügeln, darf nicht kiffen und keinen Alkohol trinken.“ Er beteuert: „Ich will es schaffen und so schnell wie möglich wieder hier raus.“ Auf der Straße zu leben ist das, was er am „coolsten“ findet. Sein Verhalten wird sich wesentlich ändern müssen, wenn wenigstens Ausgänge in Begleitung für ihn Realität werden sollen. Langfristig sollen alle Buben wieder in die Gesellschaft integriert werden. Als Zeitrahmen dafür gelten rund neun Monate.
Therese Rottler, die neben dem Haus St. Josef wohnt, weiß über die neuen Nachbarn Bescheid: „Wir haben doch keine Angst vor diesen Kindern und Jugendlichen. Wir hatten noch nie Probleme mit den Kindern des Haus St. Josef, ganz im Gegenteil. Die meisten grüßen freundlich, wenn sie vorbei gehen. Im Haus St. Josef gibt es so viel gutes Personal, dort werden sicherlich alle bestens betreut.“ Auch Bürgermeister Norbert Marold sieht die geschlossene Wohngruppe mit Wohlwollen: „Ich weiß diese Kinder und Jugendlichen sehr gut versorgt. Es ist schade, dass es so eine Einrichtung in unserer Gesellschaft geben muss. Aber wenn es schon notwendig ist, dann hier im Haus St. Josef, wo wir alle wissen, dass das Personal sein Bestes gibt, um die Bewohner wieder ins Leben zurück zu führen.“
Damit dies gelingt, ist es auch wichtig, dass die Jugendlichen am Hausunterricht teilnehmen. Derzeit finanziert das Kultusministerium allerdings nur zwölf Wochenstunden, die sich auf drei Tage verteilen. Haimböck und seine Kollegen fühlen sich deshalb etwas allein gelassen. Zumal die staatliche Jugendhilfe der Einrichtung wegen der Schulpflicht der Buben zwischen 8 und 12 Uhr auch kein Betreuungspersonal zugesteht. Wider Erwarten finden sich regelmäßig alle Jugendlichen pünktlich um 8 Uhr ein und lassen sich von einem pensionierten Hauptschullehrer (67) unterrichten. An zwei Werktagen übernehmen zudem zwei Diplom-Pädagoginnen aus dem Betreuungsteam den Unterricht. Möglich ist dies nur, weil das Sozialwerk aus eigenen Finanzmitteln und Spenden zuschießt.
*Namen geändert